„Es heißt, wer einen Kranich sieht, begibt sich auf eine lange Reise.“ Mit dieser Vorwegnahme steigt der Kinobesucher in die Thematik des Historiendramas im Westernstil ein. Früh genug ahnt man, dass diese Reise früher kommt als gedacht: Unfreiwillig und verbunden mit unvorstellbarem Leid.
Nazaret Manoogian (Tahar Rahim), glücklicher Vater von Zwillingen und Schmied in Mardin (Türkei), genießt eben noch die armenischen Klänge des Nachtgesangs seiner Ehefrau. Im nächsten Moment stehen türkische Gendarme vor seiner Haustür, entreißen ihn seiner Familie und verdammen ihn zur Zwangsarbeit in der mesopotamischen Wüste. Was er noch nicht weiß: Die systematische Massenvernichtung der Armenier und weiteren christlichen Ethnien hat begonnen. Erschreckend nah an der Realität sind die Forderungen der türkischen Kommandanten: Die
Armenier mögen sich gegen das Christentum und für den Islam entscheiden – sich somit aus ihrer prekären Zwangslage befreien – oder aber ihnen drohe weiteres Leid, zuletzt beendet durch das
Schwert. Nichts anderes droht den Christen heute durch die IS-Terrormiliz im Irak und in Syrien. Dieser Fortlauf eines heute noch geleugneten Völkermords sieht der Regisseur Fatih Akın mangels
Aufklärungsarbeit.
Anders als Nazaret, der mit einem Schnitt („The Cut“) an der Kehle mit dem Verlust seiner Stimme davon kommt, werden die deportierten Männer nicht zurückkommen. Stumm durch die Gnade
seines Peinigers, begibt er sich auf eine hoffnungslose Reise durch Trockenheit und Einsamkeit.
Der Kritik, „The Cut“ verschone das Publikum zu sehr vor den Gräueltaten von 1915, ist zunächst die Brutalität der Banditen entgegenzuhalten, die hemmungslos zum Dolche greifen. Die Armenier seien nicht einmal die Kugeln wert, die ein Schuss koste, heißt es. Aus Rassenhass scheinen die Türken auf ihren hohen Pferden die Armenier nicht einmal von Tieren zu unterscheiden, als sie ihnen Aprikosen – die armenische Nationalfrucht – zur Arbeitsstärkung vor die Füße werfen.
Vor den Augen der Kinder wird eine Mutter vergewaltigt und erschreckende Horrorszenarien, wie ein Brunnen voller aufgetürmter Frauenleichen, ziehen den Zuschauer in das Kollektivtrauma der Armenier. In der Tat stumm vor Grauen folgt man Nazaret auf seiner Odyssee, begleitet von einer emotionalen Filmmusik, die im Crescendo immer wieder das letzte gesungene Volkslied seiner Frau aufgreift. Nazaret, der nicht mehr reden kann, findet zu seiner geschundenen Schwägerin in einem ausgehungerten Flüchtlingscamp, verlassen von Gott, und erlöst sie von ihren Qualen. Es gebe Schlimmeres als den Tod lautet an dieser Stelle die Botschaft. Auch Nazareth verliert in seiner
Hoffnungslosigkeit seinen Glauben an die Liebe Gottes und wendet sich ihm ab. Der Film lässt viele existenzielle Fragen aufblitzen. Ist der Mensch böse? Warum all das Leid? Bei alldem fährt Akın jedoch nicht eingleisig. Mit Nazaret als unser Fenster zum Völkermord sehen wir, dass Gut und Böse sich fern ab von Schwarz und Weiß in der Welt zu erkennen geben: Während die jungtürkische Regierung eine schonungslose Vernichtungspolitik betreibt, hätte Nazareth nicht ohne das Erbarmen und die Hilfe eines türkischen Banditens und eines Arabers überlebt und sich teils erholt. In diesem Abschnitt des Films erlaubt sich der Regisseur sogar „Comic Relief“ (kurze
Szenen befreiender Komik), wobei man sich nur unterdrückt zu lachen wagt, bei all dem angestauten Missmut. So wird auch eine witzige Chaplin-Szene durch unser Fenster Nazaret zu einem traurigen Erlebnis. Aus der Benachrichtigung jedoch, seine Zwillingstöchter seien am Leben, schöpft er wieder Hoffnung und verlässt die verlorenen Heimat.
Im zweiten Abschnitt wird anhand seiner Ausreise nach Kuba bis nach Minnesota und North Dakota (USA), die Entstehung der Diaspora nach 1915 veranschaulicht. Der Völkermord hat Familien
auseinander gerissen – wenn nicht vollkommen ausgelöscht – und die meisten zu Waisen gemacht. Die Hauptfigur leidet wie alle Zeitzeugen unter dem Posttrauma der Schrecken des Völkermords
und konnte es nie verarbeiten. So sieht er selbst in den USA Erlebtes vor sich, als ein Angloamerikaner versucht, eine Indianerin zu vergewaltigen. Symbolisch setzt Akın in Form seiner Liebe zu Western hier eine Szene ein, die nahelegt, dass die verfolgten Christen des Orients „Indianer des Ostens“ sind. Einheimische, die von Eroberern zu „Wilden“ oder aber „Ungläubigen“ diffamiert wurden und werden.
Was manch einem letztendlich fehlen mag, ist der Blick gen Osten im zweiten Teil des Films. Der Film beginnt politisch und verirrt sich in einer Schnitzeljagd. Doch letztendlich steht diese Entwicklung der Wirkung des Werks nicht im Wege. Denn wie Fatih Akın in einem Interview äußert: „Dass darüber geredet wird, das macht den Film politisch.“
„The Cut“ ist ein versöhnliches Angebot, sich mit dem totgeschwiegenen Kapitel osmanischer Geschichte zu befassen, ohne dabei die Nachkommen der Täter kollektiv zu verurteilen. Spätestens hundert Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern, Assyrern/Aramäern und Pontosgriechen ist es an der Zeit, das Schweigen, den der Schnitt verursacht hat, zu brechen.
von Anahid Akkayan